Zu jedem anständigen Haus und in jeden vernünftigen Garten gehört ein Holunderbusch. Das sagen nicht wir, sondern das sagen Menschen schon seit uralten Zeiten! Der Holunder galt schon in der Zeit, als in unserer Gegend noch die Kelten lebten, als ganz besonderes Gewächs. Und das ist schon seeeeeehr lange her. Ungefähr 3.000 Jahre. Damals waren die Menschen, unsere Vorfahren, sehr naturverbunden. Sie waren davon überzeugt, dass auch Pflanzen und Tiere eine Seele haben, und dass man mit den Naturgeistern sprechen konnte.
Der Holunder nahm dabei eine ganz besondere Rolle ein: Er sucht die Nähe des Menschen, noch heute. Am liebsten wächst er in stillen Gartenecken oder dicht an Hausmauern. Bei unseren Vorfahren galt er als „Sippenbaum“: Jede Sippe hatte ihren Holunder. Er wurde gehegt und gepflegt und mehrheitlich in Ruhe gelassen. Und er galt als die Heimat von Frau Holle! Frau Holle, denkt Ihr jetzt vielleicht, das ist doch die Frau aus dem Märchen der Gebrüder Grimm? Ja, das ist sie! Frau Holle ist nämlich so etwas wie der gute Geist des Holunderbuschs. Sie sitzt in der Vorstellung der Menschen von damals unter seinen Wurzeln und zieht alles Böse und Schlechte zu sich nach unten in ihren großen Kupferkessel. Und dort rührt und rührt und rührt sie so lange, bis alle Krankheiten, alles Übel verschwunden ist.
Deshalb haben die Menschen dem Holunder in früheren Zeiten im wahrsten Sinne des Wortes ihre Krankheiten „angehängt“: Sie gingen zum Holunderbusch in ihrem Hof oder Garten oder vor ihrem Haus und sagten so etwas wie „Hier, Frau Holle, liebe Hollerhexe, habe ich etwas Böses. Die Gelenke schmerzen fürchterlich. Ziehe die Krankheit aus mir heraus – und es wird nicht zu deinem Schaden sein.“ Wenn es den Menschen dann wieder besser ging – weil sie vielleicht einen heilenden Tee aus der Rinde oder den Blüten des Holunderbuschs getrunken hatten – dann brachten sie Frau Holle etwas Leckeres als Dankeschön. Eine Schale Milch zum Beispiel oder etwas Mehl. „Geistspeisen“ nannte man alles weiße Essbare damals, weil es so weiß war wie man sich Geister vorstellte. So war Frau Holle, die Hollerhexe, dann zufrieden und man konnte weiter glücklich und gesund nebeneinander herleben.
Umgekehrt war es beispielsweise auch so, dass die Menschen sich kaum wagten, einen Holunder zu schneiden. Eine alte Bauernweisheit sagt: „Willst du aus dem Leben scheiden, musst du den Holunder schneiden.“ Heißt soviel wie: willst du sterben, dann schneid am Holunder herum. Das wollte ja niemand so wirklich, und die Gefahr, Frau Holle zu verärgern, war den meisten Leuten viel zu groß. Das Problem ist aber nun mal, dass ein Holunderbusch ziemlich schnell wächst und groß wird – manchmal so groß wie ein Haus. Und dann muss man ihn einfach etwas einkürzen, sonst wächst er einem im wahrsten Sinne des Wortes über den Kopf, wuchert Eingänge oder Fenster oder ganze Grundstücke zu. Also versuchten die Menschen damals, ein Geschäft mit Frau Holle abzuschließen. Sie versprachen dem Busch etwas Seltsames: „Ich nehme dir nun von deinem Bein – und dann gebe ich dir mein Bein.“ – Das hieß natürlich nicht, dass sie wirklich ihr eigenes Bein unter den Holunder stellen wollten, sondern, dass sie sich nach ihrem Tod unter dem Holunderbusch begraben lassen würden. Das haben tatsächlich auch sehr viele Menschen damals gemacht!
Wenn Ihr einen Holunderbuschbaum (wir können uns immer noch nicht entscheiden, ob es für uns eher ein Baum oder ein Busch ist…) in Eurer Nähe habt, dann setzt Euch doch mal darunter. Vielleicht spürt und seht Ihr dann auch, was viele Menschen noch heute behaupten: dass man manchmal echte Zwerge, Kobolde und Elfen vorbeiflitzen sieht. Das sind die kleinen, fleißigen Helferlein von Frau Holle, die sie auf die Erde geschickt hat, um Menschen zur Hand zu gehen, die ihren Holunder, ihr Zuhause, gut behandeln.